Call for Panels

Der Organisationsausschuss bestehend aus Mitgliedern des Historischen Seminars der Universität Luzern hat in Absprache mit dem Beirat bestehend aus Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Luzerner Kulturinstitutionen und Hochschulen für die Geschichtstage 2025 folgendes Thema gewählt:

«(Un)sichtbarkeit»

Visualität ist im 21. Jahrhundert allgegenwärtig. Ihre ästhetischen, technischen und sozialen Bedingungen und ihre Auswirkungen verlangen nach einer historiographischen Einordnung und Perspektivierung. Drei Fragen stehen dabei im Vordergrund: Wie thematisiert die historische Forschung Praktiken der (Un)sichtbarmachung? Wie geht die Geschichtswissenschaft mit Bildquellen um? Und was macht sie selbst in ihrer Arbeit sichtbar, und was nicht? Konkret schlagen wir folgende Diskussionspunkte vor:

  • Wann, von welchen Akteuren und warum sind gesellschaftliche Verhältnisse in sprachlicher oder visueller Weise sichtbar gemacht worden – oder gerade nicht?
  • Die vermeintlich unmittelbare Evidenz von Bildern hat eine Machtfunktion, die es zu analysieren gilt.
  • Historikerinnen und Historiker sind aufgefordert, sich vermehrt auch theoretisch mit der Besonderheit von Bildern zu befassen, denen auf Grund historisch bedingter Sehgewohnheiten oft eine unmittelbare Evidenz zugestanden wird. Bilder sind immer in semiotische Verweissysteme eingebunden, die sich historisch wandeln.
  • Stehende und bewegte Bilder werden in immer grösserer Zahl hergestellt und zu wichtigen Quellen. Wie können sie gesichert und überliefert werden? Wie werden die Kriterien zur Aufbewahrung und Vermittlung den veränderten technischen Bedingungen und gesellschaftlichen Bedürfnissen angepasst und wer entscheidet über diese?
  • Die Technik- und Wissensgeschichte der Bildproduktion spiegelt spezifische Interessen: Welche Apparate, Techniken und Institutionen ermöglichen und transformieren Abbildungen der sozialen Wirklichkeit?

Alle Gebiete des Faches sind eingeladen, Vorschläge für Beiträge einzureichen, welche die Art und Weise untersuchen, in der Menschen, Zivilisationen und Kulturen (Un)sichtbarkeit verstanden, entdeckt, verändert oder geschützt haben: die Kunstgeschichte wie auch die Wissenschafts- und Technikgeschichte, die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ebenso wie die politische Geschichte – unter Berücksichtigung lokaler, nationaler, internationaler und globaler Perspektiven. Wer in der Geschichte Spuren hinterlässt, rückt ins Blickfeld der Geschichtswissenschaft. Wie gehen Historikerinnen und Historiker mit Gruppen um, die das nicht tun? Auch alltags- und geschlechtergeschichtliche Fragestellungen drängen sich auf.

Sichtbarkeit und Macht

« La visibilité est un piège », heisst es bei Michel Foucault. Dieser visuellen Kampfzone widmen sich die Siebten Schweizer Geschichtstage. Sichtbarkeit hat starke unfreiwillige Aspekte; für viele Menschen war (und ist) es entscheidende Strategie, nicht den Blick staatlicher Kontrollinstanzen auf sich zu ziehen. Sichtbarkeit geht umgekehrt aber auch mit Sicherheit einher. So ereignen sich Gewalt, Missbrauch und allgemein Devianz im Verborgenen, im Schutz der Privatsphäre oder der Anonymität.

«Ich sehe etwas, was Du nicht siehst»: (Un)sichtbarkeit ist nichts selbstverständlich Gegebenes, sondern reich an Voraussetzungen in technischer, kultureller, politischer und sozio-ökonomischer Hinsicht. Es geht um einen Schauplatz von Machtansprüchen, miteinander konkurrierenden Hierarchien und Subversion. In den Publikationsmedien der Moderne streiten unterschiedliche Akteure mit jeweiligen ökonomischen und politischen Interessen um den Platz auf Plakatwänden, in Zeitungen und Bildschirmen. Gleiches galt für vormoderne Gesellschaften, in denen im Inneren von Kirchen ebenso wie auf Kleidern, Hauswänden und auf den Strassen sichtbare Markierungen von Zugehörigkeit und sozialer Exklusion miteinander konkurrierten – von den Zeichen auf den Körpern unter den Kleidern und geheimen Erkennungsmerkmalen für Eingeweihte ganz zu schweigen.

Besonderheit von Bildquellen

Der digitale Wandel beschleunigt und dramatisiert die öffentliche Diskussionskultur. Dabei wird die visuelle Kommunikation neben der Schriftlichkeit immer wichtiger. Maschinen bilden längst nicht mehr nur die Welt ab und lösen sie von ihrer Materialität und Lokalität, wie Walter Benjamin 1935 bemerkte. Durch die Generierung eigenständiger Visualisierungen entstehen neue, täuschend echte oder surreale Welten, in welchen Repräsentationsformen des Sozialen und die damit verbundenen Machtverhältnisse oftmals reproduziert und akzentuiert werden.

Die Kunstgeschichte hält einen reichen Schatz an methodischen Anregungen zur semiotischen Analyse der visuellen Kommunikation bereit, die von der traditionell stark textorientierten Geschichtswissenschaft vermehrt aufgenommen wird. Hinzu kommen neue methodische Herausforderungen. Was bedeuten Bilder als Quellen, als Beweise und demonstratives «So war es!» im Zeitalter umfassender digitaler Modellierungs-, Veränderungs- und Generierungsmöglichkeiten?

«Wissen, das ist der Diskurs, die Debatte, die Analyse. Ein Bild drängt sich auf, zwingt sich dem Geist auf – ein Bild ist ein Schock» hat Paul Virilio festgehalten. Es gibt also besondere Mechanismen der visuellen Kommunikation, die sich von Texten unterscheiden. Bilder scheinen eine besonders unmittelbare Evidenz zu haben zur Vergegenständlichung sozialer Ereignisse. Wie ist diese spezielle Kommunikationsleistung des Visuellen historisch zu verstehen gerade mit Blick auf ungelöste Konflikte und andauernde Forschungsdebatten?

Funktion und Nutzung von Bildern

Lange konnten sich nur Angehörige der herrschenden Elite gemalte Porträts leisten. Das Aufkommen der Fotografie demokratisierte den Zugang zur Bildproduktion auch im Globalen Süden und erhöhte die Sichtbarkeit persönlicher Lebenswelten und damit die Möglichkeiten zur Selbstbeobachtung, Selbststeuerung oder Selbstoptimierung, kurz: der Selbstwirksamkeit.

Bildliche Sichtbarkeit spielte in der Vergangenheit für Staaten und kommerzielle Unternehmen eine wichtige Rolle. Vom Beginn des 19. Jahrhunderts entstand ein «Universum der technischen Bilder» (Vilem Flusser), das diese Ansprüche und Strategien alimentierte. Zu diesen gehören die geodätische Vermessung ebenso wie die volkswirtschaftliche Statistik, die Punkte des European Credit Transfer System oder der Nutriscore auf Lebensmittelverpackungen.

Luzern ist einer der Geburtsorte des Tourismus, heute eine der umsatzstärksten Dienstleistungsindustrien der Welt. Die «Fremdenindustrie», wie sie im 19. Jahrhundert hiess, will ihre Attraktionen unübersehbar machen – und beruht darauf, dass vieles andere unsichtbar wird. Auch aktuelle Debatten um «kulturelle Aneignung» drehen sich um diesen Punkt. Wenn Migrantinnen eine hohe Sichtbarkeit entfalten, von den Glaubensflüchtlingen der Frühen Neuzeit bis zu den Wanderungsbewegungen der Gegenwart, was bewirkt das in ihren neuen sozialen Umgebungen?

Was macht die Geschichtsforschung sichtbar, was nicht?

Das Thema «(Un)sichtbarkeit» eröffnet zudem die Möglichkeit, einige grundsätzliche Fragen an die Funktion der Geschichtswissenschaften in der Gegenwart zu stellen. Geschichte definiert sich gerne als Sichtbarkeitsagentur, die aus den Archiven zuvor verborgene Sachverhalte in die Gegenwart transportiert. Was wird dabei visualisiert und sichtbar gemacht, was vergessen und unsichtbar?

Das mit der Sichtbarkeit einhergehende Wissen wiederum ist in den allermeisten seiner Erscheinungsformen erst einmal diskret, verborgen in Aktenordnern, geschlossenen Institutionen und technischen Apparaten. Sichtbar wird es gewöhnlich in konflikthaften Konstellationen: Wer macht dabei im Namen welcher Normen was sichtbar?

Diese Überlegungen mögen als Anregungen dienen für die Debatte unter Historikerinnen und Historikern sowie für den Dialog zwischen Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftlern und einem breiteren Publikum. Unser Thema hat starke Aktualitätsbezüge, und das ist Absicht: Wir verstehen die Geschichtstage nicht nur als einen Ort der Erneuerung des Fachs, sondern möchten auch eine breitere Öffentlichkeit ansprechen.

Für weitere Auskünfte steht Ihnen Marion Ronca, Koordinatorin der Schweizerischen Geschichtstage 2025, unter der Mailadresse marion.ronca@unilu.ch gerne zur Verfügung.